»vom fleck weg heiraten« – die geschichte der stickmustertücher
Nach der »Liebe auf den ersten Blick« folgt »vom Fleck weg heiraten«. Im Grunde genommen drückt diese Redewendung aus, jemanden zu heiraten, ohne lang darüber nachzudenken. Aber woher stammt dieser Spruch eigentlich?
Tatsächlich findet die Redewendung ihren Ursprung in den Handarbeiten. Mit dem Inkrafttreten des Reichsvolksschulgesetzes 1869 übernahm der Staat die Aufsicht für die Schulen. In diesem Zusammenhang wurde für die Mädchen das Fach »Weibliche Handarbeit« bzw. »Nadelunterricht« eingeführt. Hier erlernten sie die gängigsten Näh-, Stick- und Häkeltechniken. Aufgrund von Materialknappheit standen den Schulen nicht immer ausreichend Stoffe zur Verfügung. Daher griffen die Lehrer*innen auf alte »Leinenflecke« zurück, die von Arbeitsmustern übriggeblieben waren. Auf diesen »Leinenflecken« hielten die jungen Mädchen ihr Können fest. Die fertig gestellten Stickmustertücher wurden, nachdem sie mit Namen (Initialen) und dem Jahr versehen wurden, zur Aussteuer der Mädchen gefügt. Vor einer Heirat nahm sich die zukünftige Schwiegermutter manchmal das Recht einen Blick in die Brauttruhe zu werfen. Neben der klassischen Aussteuer (Bettwäsche, Nachthemden, Leinen etc.) fand sie dort auch den bearbeiteten Leinenflecken des Mädchens. Anhand dessen vermochte die Mutter abzulesen, ob die zukünftige Braut gewissenhaft, sauber und fleißig genug für ihren Sohn war. Das Stickmustertuch diente demnach als eine Art »Portfolio« für die jungen Mädchen. War die Mutter mit den Arbeiten des Mädchens zufrieden, so konnte sie ihren Sohn »vom Fleck weg heiraten«.
Die Geschichte der Stickmustertücher geht aber noch weit über die Redewendung hinaus. In Europa sind sie seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Die (Leinen-)Tücher sind individuell bestickt mit vornehmlich Buchstaben und Zahlen. Einige von ihnen sind aber auch in symmetrischer Anlage mit ausgewählten Bortenmustern, Symbolen und teils biblischen Bildern verziert. Oft wiederkehrende Motive sind der Lebensbaum, das Segelschiff, heraldisch stilisierte Tiere, Blumen, Sträuße oder Gebäude. Teilweise wurden die Motive durch die Stickmustertücher über Generationen hinweg in den Familien weitergegeben. Ein Großteil der Tücher enthält die Initialen der Sticker*innen und das Entstehungsjahr. Ab dem 18. Jahrhundert wurde hauptsächlich im Kreuzstich gestickt; vorher auch im Platt-, Ketten- oder Flechtstich.
Der Zweck der Stickmustertücher beschränkte sich zum Großteil auf das Üben und Erlernen der Handarbeitstechniken. Dazu gehörten Stickstiche, Alphabete, Zahlen, Borten und Verzierungen. Wie oben bereits erwähnt, wurden durch die Tücher aber auch Motivrepertoires überliefert und festgehalten. Hier lässt sich eine Parallele zu den niederländischen »Merklappen« herstellen, die eine ähnliche Funktion einnahmen.
Die meisten der heute noch erhaltenen Stickmustertücher stammen aus dem 19. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt waren sie fester Bestandteil der schulischen Mädchenerziehung und im Lehrplan verankert. Außerdem hatten die Stickmustertücher ein hohes gesellschaftliches Ansehen erreicht, weshalb man sie als dekorative Elemente an die Wand hängte; als Beweis für den häuslichen Fleiß. Etliche Stücke stammen aber auch aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und stellen die Fortläufer der Holzschnitte und Kupferstiche dar. Die Anfertigung dieser wurde jedoch meist von Jungen verübt. Die biblischen Motive und kunstvollen Verzierungen verschwanden mit der Vereinheitlichung des Schulsystems 1872 von den Stickmustertüchern, so dass nur noch Zahlen und Buchstaben übrigblieben. Weitere Reformbewegungen um die Jahrhundertwende herum hatten zur Folge, dass immer weniger Stickmustertücher angefertigt wurden, weil man den Kindern mehr kreativen Freiraum lassen wollte. Spätestens mit der Weimarer Republik, nach dem ersten Weltkrieg, verschwanden die Stickmustertücher dann ganz aus den Schulen.
Heute gibt es etliche Vorlagen für Stickmustertücher im Internet zu kaufen. Die Preise gehen bei 11,00 € los und hoch bis auf 121,00 € pro Stück. Vielleicht kann man sich das Geld auch einfach sparen, indem man sich ein altes Stück (Leinen-)Stoff schnappt und drauflos stickt!
Ein bisschen Inspiration, findet Ihr in der digitalen Sammlung der Museen Nord (Auswahl an Stickmustertüchern aus den Jahren 1776-1951): Sammlung Museen Nord (externer Link)
Oder auch im Archiv der Staatlichen Museen zu Berlin / Preußischer Kulturbesitz: Archiv Staatlichen Museen zu Berlin / Preußischer Kulturbesitz (externer Link)
quellen:
quellenverzeichnis enthält externe links:
Buch über deutsche Redewendungen und Schulleben während der Kaiserzeit. Aktuell nicht vorliegend, Quelle wird nachgereicht.
Marianne Stradal und Ulrike Brommer: Mit Nadel und Faden. Freiburg 1990, S. 78–84
Kreisverwaltung Landkreis Stendal (03.03.2023). Neue Ausstellung „Stickmustertücher aus Altmark und Prignitz“. Lankreis Stendal: https://www.landkreis-stendal.de/de/news/neue-ausstellung-stickmustertuecher-aus-altmark-und-prignitz.html (letzter Zugriff: 06. Juni 2023).
Stiftung Historische Museen Hamburg (1975). Stickmustertücher aus dem Besitz des Altonaer Museums. Ausstellungskatalog des Altonaer Museum in Hamburg, Norddeutsches Landesmuseum, Hamburg 1975.
liva hamburg, 18. juni 2023