urlaub in bullerbü
»Zwei mal drei macht vier Widdewiddewitt und drei macht neune! Ich mach‘ mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt« – mit Pippi Langstrumpf im Ohr ging es über die Öresundbrücke diesen Sommer nach Schweden. Wusstet Ihr, dass mehr deutsche als schwedische Kinder Astrid Lindgren in ihrer Kindheit lesen? Ich war auf jeden Fall eins von Ihnen!
Nachdem auch an Tag drei die Regenwolken nicht vorübergezogen, war ich enttäuscht: Wo waren die leuchtend-roten Häuser, die Elche und unberührten Naturlandschaften? Anstelle von Karlsson flogen nur graue Wolken über unser Dach. Schweden sah nicht aus wie Bullerbü. Mithilfe von Dr. Google fand ich schnell eine Antwort: Ich litt am Bullerbü-Syndrom. Dieser Begriff wurde im Jahr 2007 von Berthold Franke dem damaligen Leiter des Goethe-Instituts in Stockholm ins Leben gerufen. Kein Jahr später überführten die Schweden den Begriff in ihre Sprache (»Bullerbysyndromet«) und kürten ihn im Februar 2008 zum Wort des Monats.
Blaue Seen, grüne Wälder, rote Häuser und freundliche Menschen mit blonden Haaren – so das Bild der schwedischen Idylle, geprägt durch Astrid Lindgrens Geschichten. Dass es in der Realität anders aussieht, sollte keine Überraschung sein – ist es für viele aber doch. Wie zu Beginn erwähnt, hat sich kaum ein anderes Land so sehr mit der Welt von Astrid Lindgren auseinandergesetzt, wie die Deutschen. Das führt dazu, dass sich viele nach dem Bullerbü-Schweden sehnen. Folgt man Frankes These, so ist dies aber vielmehr der Ausdruck einer Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit und dem Gefühl von Heimat. Die Wünsche, die in Deutschland scheinbar nicht mehr erfüllt werden können, projiziert man dann auf Schweden.
Einmal von der Illusion befreit, betrachtete ich Schweden von einer anderen Seite und hörte auf nach dem kleinen Onkel zu suchen.
Stattdessen begab ich mich auf die Suche nach Secondhand-Schätzen in den zahlreichen »Loppis«. Die »Loppis« sind in Schweden Floh- oder Antikmärkte, auf denen die Leute ihre alten Schätze verkaufen. Dies kann auf verschiedenste Art stattfinden. Nachdem wir einige Zeit im Süden Schwedens verbracht hatten, besuchten wir Familie in Mittel-Schweden. An einem Sonntag-Vormittag ging es auf »Loppis«-Tour. Auf dem Weg zum ersten »Loppis« sammelten wir noch eine Freundin ein. Dort angekommen schloss uns eine ältere Dame ihre kleine Gartenlaube auf, in der sie Tassen, Gardinen und alten Haushaltskram anbot. Fast hätte ich ein altes Spinnrad mitgenommen; aber es war ja erst der erste »Loppi«. Als nächstes kamen wir an einem Gemeindehaus vorbei. Neben den Kindergartenfotos von 1999 wurden Filme, Bücher und Möbel verkauft. Dazu gab es Kaffee und Kuchen. Hier konnte ich mich dann nicht mehr zurückhalten und steckte die ersten Stoffe ein. Von einer weiteren Bekannten hatten wir den Hinweis erhalten, dass ganz in der Nähe ein alter Hof seine Türen geöffnet hatte – nichts wie hin! Ein handgewebter 3 Meter langer Teppich für umgerechnet 5,00 €?! Davon habe ich gleich zwei Stück mitgenommen! Es folgten drei oder vier weitere »Loppis«, bis wir vor Hunger bei »Sybilla«, einer schwedischen Fast-Food-Kette, landeten. Von hochgefahrenen Garagentoren, aufgebauten Pavillons, Hintertüren und extra eingerichteten Kassen-Schreibtischen, war alles mit dabei. Auch meine Familie meinte: »Dieser Tag wir in die Geschichte der ›Loppis‹-Touren eingehen«. Am Abend gab es eine Pilzpfanne am Langerfeuer. Die Pilze hatten wir während unseren Fahrten von »Loppi« zu »Loppi« am Wegesrand gesammelt. Es regnete und wir saßen in einer kleinen Schutzhütte am See – Schweden kann also doch Idylle.
Von dort aus ging es weiter durch Schweden. Vorbei an blauen Seen, grünen Wäldern und roten Häusern (die sogar richtig aufleuchteten, wenn es die Sonne mal durch die Wolkendecke schaffte). Auf unseren Fahrten, gerade im südlichen Teil Schwedens, trafen wir auf jede Menge Freunde des »Alten Schweden«, einem riesigen Stein, der zuhause in Hamburg an der Elbe liegt.
Nahe der Grenze zu Norwegen liegt in Klässbol eine Leinenweberei. Hier werden viele Produktionen für das schwedische Königshaus angefertigt. Auf unserem Weg Richtung Göteborg machten wir dort kurz Halt und waren begeistert von der Transparenz, die der Betrieb pflegt. Empfangen wird man in einem riesigen Verkaufsraum, welcher zu schwedischen Preisen hochwertige Leinenprodukte anbietet. In einem Nebenraum gibt es dann zu eher deutschen Preisen Produkte mit kleinen Fehlern drin. Das viel Spannendere daran ist aber, dass man sich auch in die Produktionsräume selbst begeben kann. So schaute ich begeistert den Maschinen dabei zu, wie sie riesige Mengen an Garn aufrollten, Fäden in Stoffe verwandelten und Muster auf Tücher zauberten. Am liebsten hätte ich mich direkt selbst hinter den großen Webstuhl aus Holz gesetzt. Dort wird allerdings gerade das Tafeltuch für Carl Gustav XVI gewebt. Insgesamt werden es 7 Tischdecken á 8 Meter und 2 Tücher á 4 Meter. Laut eigenen Angaben können am Tag ca. 10 cm gewebt werden. Ich hoffe Carl Gustav braucht die Tücher nicht schon zu Weihnachten …
Weiter ging es durch die unendliche Natur, vorbei an den Schären und grünen Feldern. Immer noch heimlich auf der Suche nach dem Kleinen Onkel, dachte ich kurz ihn in einem der Felder entdeckt zu haben. Mit einem braunen Fell und zu großem Geweih entpuppte er sich dann aber doch als Elch – auch nicht schlecht.
In Göteborg angekommen wurden wir von viel Wasser überrascht. Es regnete von oben, von unten, von rechts und links. Das Fieseste war jedoch der Wind. Durch ihn hatte man gar keine Chance dem Wasser zu entkommen und trocken zu bleiben. Früher haben meine Eltern bei Regenwetter immer versucht mich mit einem Museumsbesuch zu bespaßen. Heute verwende ich diese Taktik selbst und bin erstaunt, wie gut das klappt (ich würde sogar behaupten, dass es heute besser klappt). Überrascht wurde ich in den historischen Räumen des »Röhsska Museums« von modernen Interpretationen der Handarbeit. Umgesetzt von Absolvent*innen aus den Bereichen Mode, Textil und Design verschiedener Hochschulen Skandinaviens. »Nordic Fahion Now: Knitwear and Print« war der Titel der Ausstellung, die eine revolutionäre Stimmung hervorrief. Zunächst etwas abgeschreckt von den vielen Farben, skurrilen Formen und vielen Eindrücken, wuchs die Begeisterung Stück für Stück, als ich verstand, was die einzelnen Personen mit ihren Entwürfen ausdrücken wollten.
Da war Boram Yoo, die gerade erst ihren Abschluss an der Aalto University in Helsinki gemacht hat, wo auch ich vor einem Jahr noch studierte. Boram Yoo ist eine süd-koreanische Modedesignerin und setzt sich in ihrer Arbeit mit der koreanischen Zwangsarbeiteruniform währen der Kolonialzeit von 1910-1945 auseinander. Die ursprünglich schwarze Militärkleidung versieht sie mit Blumendrucken, um so die Geschichte des Krieges darzustellen und eine optimistische Wiederaneignung der Kleidungsstücke zu ermöglichen.
Während Boram Yoos in ihren Designs das Dunkle mit Blumen überdeckt, lässt Maibritt Marjunardóttir den düsteren Emotionen freien Lauf. Sie ist eine auf den Färöer-Inseln geborene Mode- und Textildesignerin. Ihre Arbeit verbindet die skandinavische Stricktradition mit einer dunklen und unheimlichen Avantgarde-Ästhetik. Mich haben besonders die Gefühle beeindruckt, die sie in ihren Entwürfen verarbeitet.
Mikaela Martensson wirkt hingegen verspielt, positiv und utopisch. Die Entwürfe der jungen schwedischen Modedesignerin sind inspiriert von Gemälden und Kleidungsstücken aus der Renaissance. Die ausdrucksstarken Strick- und Häkelarbeiten, werden aus lokal und nachhaltig produzierten, fair gehandelten Stoffen hergestellt. Mit ihrem Shop möchte sie ein Unternehmen führen, welches in einer Welt der Fast Fashion »slow« handelt.
Besonders interessant ist die Herstellungsmethode der schwedischen Modedesignerin Matilda Sundkler. Die schwedische Modedesignerin nutzt alte Wollreste, die auf einer industriellen Rundstrickmaschine in ein flaches Strickstück verarbeitet werden. Durch die Schrumpfung bei einer 60-Grad-Wäsche und das Filzen werden die Textilien in ein dreidimensionales Kleidungsstück verwandelt.
Boram, Maibritt, Mikaela und Matilda haben mir gezeigt, dass Schweden noch mehr Geschichten als die von Pipi, Karlsson, Michel & Co. zu erzählen hat. Geschichten, die vielleicht nicht von Sommer, Sonne, Sonnenschein berichten, die aber dennoch von Mut, Neugier, Natur und dem Geruch von »Kanelbullar« geprägt sind.
liva hamburg, 25. august 2023