threads of life
»Es ist Heiligabend in China, 1995. Ich wohne im Hotel für Ausländer in Kaili im Südwesten Chinas, einem düsteren Ort mit dunklen Gängen und baumelnden Elektrokabeln. Ich habe eine Armlänge Lametta aufgereiht und einen goldenen Stern ans Fenster gehängt, sehr zur Freude der vorbeigehenden Kinder. Jetzt ist alles still. In meinem kleinen Zimmer wirft die nackte Glühbirne Schatten auf einen Stapel verblichener Steppdecken, die auf zwei Eisenbetten hochgeklappt sind. Gerade als ich anfange, Heimweh zu verspüren, öffnet sich die Tür und ein Lichtstreifen vom Flur fällt ein, herein gleitet eine Frau, verschwommen im schwachen Licht, den Buckel eines Bündels auf dem Rücken.« (Hunter 2019, S. 110, eigene Übersetzung)
Im Dezember 1995 befindet sich die schottische Textilkünstlerin, Kuratorin und Autorin Clare Hunter in China. Sie ist auf Recherchereise. Durch eine Ausstellung ist Hunter auf die in China lebende ethnische Minderheitsgruppe der Miao aufmerksam geworden. Bekannt ist diese Gruppe für ihre kunstvoll gearbeiteten Wandbehänge und Trachten. Hunter möchte mehr über die Kultur der Miao und ihr künstlerisches Werken herausfinden. Die Frau, die an diesem Abend zu ihr ins Zimmer kommt, ist ihr unbekannt, schnell jedoch finden sie eine Verbindung. Denn was sie verbindet, ist die Liebe zur Handarbeit.
In dem Buch »Threads Of Life – A History of the World Through the Eye of a Needle« erschienen 2019 im SCEPTRE-Verlag setzt sich die Autorin Clare Hunter auf sehr persönliche Weise mit der Geschichte der Handarbeit auseinander. Dabei bringt sie zu Wort, was bisher nur mit Nadel und Faden festgehalten wurde.
Mit ihrer erzählerischen, sehr persönlichen Schreibweise grenzt sie sich von herkömmlichen Kunstkritiker*innen ab. Teilweise nimmt der Text poetische Züge an; immer wieder werden Lieder und Gedichte mit eingebaut. Das Buch wirkt wie eine Liebeserklärung an die Handarbeiten und betont ihren historischen Wert. Es wird deutlich, dass sie selbst mit ihren Händen arbeitet und tief mit der Welt der Textilien und Handarbeiten verbunden ist. Manchmal träume sie sogar vom Nähen (Vgl. Hunter 2019, S.1). Immer wieder lässt Hunter persönliche Erinnerungen Teil der Geschichte(n) der Handarbeit werden. Dadurch wird das Buch greifbar. Dem Lesenden fällt es leicht, sich mit den Inhalten zu identifizieren.
Lebendig wird das Buch durch die vielen Geschichten, die Clare Hunter mit in ihre Erzählungen einbaut. Einige Beispiele:
- Der Teppich von Bayeux – Die Geschichte von einem historischen Teppich, der Weltgeschichte festhält und immer wieder in den Mittelpunkt politischen Handlungen gerät
- Die schottische Königin Mary Stuart (1542-1587) – Die Geschichte einer Stick-Leidenschaft, die bis in den Kerker führt
- Der Fischer John Craske (1881-1943) – Die Geschichte des Malens und Stickens als Heilmittel gegen Traumata
- Elizabeth Fry (1780-1845) – Die Geschichte einer mutigen Kanadierin und den gefangenen Frauen in Singapur
- Crossing the Mekong – Die Geschichte von Handarbeiten in der Fluchtgeschichte von Laos
- 3x Mary – Die Geschichte der Förderung weiblicher Kunst in England im 18. Jahrhundert
Aber auch kleinere, weniger historisch bedeutende Geschichten füllen das Buch. Da wäre die Geschichte einer Mutter, die ihr Kind nach der Geburt nicht behalten konnte und in Stickbildern ihre Gedanken festhält oder ein Quilt der traditionell zum 18. Geburtstag verschenkt wird. Dass dabei kein einziges Bild im Buch auftaucht, fällt kaum auf, denn allein durch die Beschreibungen hat man beim Lesen tausende Bilder im Kopf.
Besonders zu betonen ist, dass sich Hunter in den 16 Kapiteln mit verschiedenen Werten auseinandersetzt, die sie mit den Handarbeiten verbindet. Dazu gehören unter anderem: Frailty = Gebrechlichkeit, Identity = Identität, Connection = Verbindung, Protect = Schutz, Protest = Protest, Loss = Verlust, Art = Kunst, Work = Arbeit, Voice = Stimme.
Als Textilkünstlerin setzt sich Hunter in verschiedenen schottischen Städten in Gemeinschaftsprojekten ein. Wie ein roter Faden zieht sich der gesellschaftliche Mehrwert von Handarbeiten durch das Buch. So prangert Hunter auch immer wieder die unterdrückte Stellung der Frau an: »Wie lange, frage ich mich, dauert es, bis Künstlerinnen angemessen und gerecht anerkannt werden?« (Hunter 2019, S. 250, eigene Übersetzung) oder bewirbt Handarbeiten als Therapiemittel. Neben dem gemeinsamen Gestalten von Dorf- und Demonstrationsbannern, geht Hunter auch in die Krankenhäuser und arbeitet mit Kriegsveteranen. »Ich muss die Details ihrer Schäden nicht kennen: Es ist besser, sie so kennenzulernen, wie ich sie vorfinde, Woche für Woche, und nicht so, wie sie sein könnten oder gewesen sind oder wieder sein könnten.« (Hunter 2019, S. 34, eigene Übersetzung)
Immer wieder tauchen die Handarbeiten in unserer Geschichte und in aller Welt auf. Sei es in China, Schottland, Singapur, Argentinien, Vietnam, der Ukraine oder Ghana. Hunter erzählt (fast) alle Geschichten. Mühseligst aufgearbeitet und sorgfältigst recherchiert, nimmt sie den Lesenden mit auf eine Reise durch die Geschichte(n) der Handarbeiten.
Zum Schluss fasst Hunter zusammen:
»Nähen ist eine Möglichkeit, unsere Existenz auf Stoff zu markieren: unseren Platz in der Welt zu markieren, unsere Identität zum Ausdruck zu bringen, etwas von uns selbst mit anderen zu teilen und den unauslöschlichen Beweis unserer Anwesenheit in Stichen zu hinterlassen, die durch unsere Berührung festgehalten werden. « (Hunter 2019, S 298, eigene Übersetzung)
quellen:
Hunter, Claire (2020): Threads of Life – A History of the world through the eye of a needle, London: Großbritannien, Hodder & Stoughton.
liva hamburg, 23. mai 2023