stoffe aus aller welt

Früher bin ich viel gereist, viel geflogen. Dann kam das Gewissen hinzu. Die Bedingung meiner Mutter mich ziehen zu lassen war es, ihr einen typischen Stoff aus der Region mitzubringen. Von jeder großen Reise also brachte ich ein Stück Stoff im Koffer mit. Die Stoffe und ihre Geschichten möchte ich hier gerne festhalten. Viele der Erinnerungen sind bereits jetzt lückenhaft und die Hintergründe zu den Stoffen unvollständig. Über jede Ergänzung freuen wir uns also sehr.

2015 verbrachte ich einen Monat lang in Indien. Im Rahmen eines Austauschprogramms stieg ich Anfang des Jahres mit ca. 20 weiteren Hamburger Schüler*innen in den Flieger nach Hyderabad. Die Stadt liegt im südlichen Teil Indiens. Gefühlt landete ich jedoch im Norden. Denn meine Gastfamilie stammt ursprünglich aus Punjab. Als traditionelle Punjabi aßen sie gerne Butter Chicken, tranken Lassi und wussten, wie man richtig feiert. Gleich am ersten Abend wurde ich in eine »Lehenga« gewickelt und mit zu einer indischen Hochzeit genommen. Die »Lehenga« ist eine traditionell weibliche Tracht, die aus einem langen Rock und einem (bauchfreien) Oberteil besteht. Die Farben, die Gerüche, die Sprache und der Jetlag an dem Abend waren eine überwältigende Kombination, die bis zum Ende meines Aufenthalts andauerte. Ich erinnere mich an leise, abgedämpfte Fahrten im Auto durch den Trubel der lauten, ruhelosen Stadt. Ich erinnere mich an gemeinsame Tänze in langen Kleidern, an späte Nächte und frühe Morgenstunden. Die Inder sind ein stolzes Volk. Sie prahlen gerne mit ihrer Kultur, ihrem Glanz, der Tradition und dem Schein. Die Herzlichkeit, mit der ich empfangen und aufgenommen wurde, dauert bis heute an.

Der Stoff, den ich meiner Mutter mitbrachte, stammt aus den Händen meines Gastvaters. Er brachte ihn mir eines Abends als Geschenk mit. Es ist ein cremefarbener Baumwollstoff, der mit aufwändigen Stickereien und Steinchen verziert ist. Am unteren Rand befindet sich eine große Borte mit Rundungen, die aus grünem Samt besteht. Auch sie ist mit Stickereien abgerundet und mit Blumen verziert. Ein prachtvoller Stoff, der die Kunstfertigkeit, Sanftheit und den Überfluss des Landes einfängt.

Eineinhalb Jahre später, es war Herbst 2016, ging es nach Tansania. An der Grenze zu Kenia, im Norden des Landes direkt am Kilimandscharo, liegt die Partnerschule meines damaligen Gymnasiums. Alle paar Jahre flog eine Gruppe dahin, um die Schüler*innen und Lehrer*innen vor Ort zu besuchen, Lehrmaterialien zu besorgen und Projekte zu besprechen. Ich hatte das Glück mit dabei sein zu dürfen. Wir schliefen im Haus der Tochter des Dorfältesten. Noch immer habe ich sie, Upendo, vor Augen, wie sie uns morgens mit einer Schürze um die Hüften und einem Tuch um ihre vielen Haare gewickelt das Frühstück serviert: Waffeln, Maisbrei, Früchte, Saft, Kaffee, Milch, Bohnen und vieles mehr. Sie erklärte mir, dass viele in der dort lebenden Region eine »Shambaa« haben. Die »Shambaa« ist ein kleiner Hof mit einigen Tieren und einem Acker, mit dem man sich selbst versorgen kann. Je nach Stellung im Dorf und Vermögen ist die »Shambaa« unterschiedlich groß. An einigen Tagen durfte ich mithelfen und die Kühe melken; mehr aber auch nicht, denn als aus Europa kommend wurden wir mit einer bestimmten Ehrhaftigkeit behandelt.

Gemeinsam mit Upendo fuhren wir nach Moshi, der nächstgelegenen großen Stadt. Ich äußerte den Wunsch gerne etwas Stoff zu kaufen, woraufhin wir in einem kleinen Ladengeschäft an der Ecke eines weißen, dreigeschossigen Hauses landeten. An beiden Ecken des Hauses waren die bodentiefen Ladenfenster offen, nachts wurden sie einfach mit Rollläden geschlossen. Trotz der offenen Fenster war es sehr düster. Im hinteren Teil des Raumes stand eine große, dunkelbraue Verkaufstheke aus Holz. Den Rest des Raumes konnte man nicht erkennen, denn es war alles voll mit Stoffen und redenden Frauen. Natürlich sorgte ich als weißes, junges Mädchen für Aufsehen. Lautstark verhandelte Upendo für mich den Preis auf Suaheli. Auf die Frage, wofür ich sie denn verwenden möchte, hatte ich keine Antwort. Letztendlich ging ich mit zwei unterschiedlich gemusterten Stoffen aus dem Laden, die bis heute zu meinen Lieblingsstücken gehören. Mit einer dünnen Wachsschicht bezogen spenden sie etwas Kühle. Die Muster unterscheiden sich von Region zu Region. Die Kühle des Stoffes steht im Kontrast zur Hitze des Landes während die Muster die Vielfalt, Lebenslust und Geschichte der Menschen wiederspiegeln.

Mit dem Abitur in der Hand stieg ich im Sonner 2017 in den Flieger nach Mexiko. Ein Jahr lang sollte ich dort an einer deutschen Schule unterrichten. Und wieder bekam ich den Auftrag von Mutter einen Stoff mit nach Hause zu bringen. Wenn man ein Jahr lang in einem Land lebt, sind die Eindrücke umfangreicher und tiefgehender als sonst. Mein Fazit nach einem Jahr war, dass Mexiko ein wunderschönes Land zum Reisen und ein schwieriges Land zum Leben ist.

Der Stoff, der am Ende in meinem Koffer landete, stammt von einem Markt in Chiapas, einem südlichen Teil des Landes. Im Verhältnis zu dem Stoff, aus dem die Blusen sind, die ich aus Mexiko mitgebracht habe, ist er aus einem leichten Material. Wahrscheinlich ist es ein Wollstoff mit Polyesteranteil. Die Muster der traditionellen Stoffe sind den, noch zahlreich vorhandenen, indigenen Völkern in Mexiko zuzuweisen. Dieser hier jedoch nicht, es handelt sich eher um ein konventionelles Muster. Die Eigenschaften spiegeln meine Eindrücke wider: Mexiko ist mit seinem Streben nach den USA sehr konventionell ausgerichtet und doch eine extrem stolze Nation. Jedes Jahr aufs Neue gibt es Ende Oktober die Diskussion: Feiert man »Halloween« oder »Día de los Muertos«?

Zum Abschluss meines Studiums verschlug es mich im Sommer 2022, nach einigen Jahren der Pandemie, nach Finnland. Geografisch die kürzeste Strecke, brauchte ich von Hamburg aus zeitlich mindestens so lange nach Helsinki, wie nach Hyderabad. Ohne Koffer und den Tränen nahe schaffte ich es mit über 12 Stunden Verspätung in den Norden Europas. Wie auf meiner ersten Reise wurde ich vom ersten Moment an überwältigt: Das andauernde Licht, die moderne Ausrichtung, die freundlichen und hilfsbereiten Menschen. Auch das zog sich bis zum Ende meines Aufenthalts so durch. Hinzu kamen fleißige Stunden in der Oodi-Bibliothek, Ausflüge in die Natur und jede Menge Zimtschnecken.

Keine drei Stunden mit der Fähre von Helsinki entfernt liegt das wunderschöne, und überraschend digitale, Estland. In einem kleinen Geschäft in der Tallinner Innenstadt fand ich, auf Empfehlung meines Kommilitonen, einen Stoffladen, der traditionellen Wollstoff anbot. Im Vergleich zu den anderen Stoffen ist dieser mit Abstand am dicksten und festesten. Klar, die nordischen Winter sind kalt und lang. Man erklärte mir, dass er insbesondere für die Herstellung von langen Röcken verwendet wird, unter denen meist noch zusätzlich Leinenhosen getragen werden. Es ist ein wärmender, qualitativ hochwertiger, teurer Stoff, der trotz seiner einfachen gestreiften Ausrichtung an Mustervielfalt nicht mangelt.

Auf die Frage, die mir 2016 im Stoffgeschäft in Tansania gestellt wurde, was ich mit den Stoffen machen möchte, haben weder meine Mutter noch ich heute eine Antwort. Vermutlich bleibt es eine Sammlung. Schön wäre es, wenn diese Sammlung weiterwächst.

liva hamburg, 12. november 2023