marianne stradal

Ich sitze im Zug, an mir zieht die deutsche Landschaft vorbei: Ich sehe karge Felder, renovierungsbedürftige Bahnhöfe und ab und zu ein paar Häuser. Mir gegenüber schauen zwei Personen auf einen Laptop, daneben wird am Handy gedaddelt. Vor etwa zwanzig Minuten passierte uns die Schaffnerin, fragte vereinzelt nach Fahrkarten, denn der Rest hatte schon via Komfort-Check-In eingecheckt.

Etwa siebzig Jahre zuvor Jahre zuvor saß auch Marianne Stradal im Zug und fuhr durch die Bundesrepublik. Im Gegensatz zu mir hatte sie meist Nadel und Faden in der Hand und kam recht schnell mit den Personen um sich herum ins Gespräch. Zu den Schaffnern baute sie persönliche Beziehungen auf.

Der Lebensweg dieser bemerkenswerten Frau aus Österreich führt nicht nur mit dem Zug durch Deutschland und Österreich, sondern auch durch die Geschichte der Textilkunst. Den folgenden Text möchte ich Marianne Stradal widmen, die ihr Leben den Handarbeiten widmete.

Wichtig ist mir noch anzumerken, dass ein Großteil der hier wiedergegebenen Informationen aus Marianne Stradals autobiografischen Buch »Mit St(r)icknadel und Lippenstift auf der Bundesbahn« von 1970 stammt. Ergänzt wurde mit Informationen aus weiteren Publikationen. Weiter ist wenig zu Ihr zu finden.

Eine Kindheit in Südmähren

Prof. Dr. Marianne Stradal wurde 1903 in Südmähren (heute Tschechien) geboren und wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Znaim auf. In ihren Erinnerungen beschreibt sie eine glückliche, beinahe zauberhafte Kindheit. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bleibt für sie ein leuchtendes Kapitel – voller Musik, familiärer Wärme und einer tiefen Verbundenheit mit der Natur und den Bräuchen ihrer Heimat.

Schon als Kind war sie eine gute Schülerin – fleißig, gewissenhaft, manchmal ein wenig still. Ihr Vater, selbst Lehrer, unterrichtete ihren Bruder und sie in den ersten Jahren selbst. Sie verehrte ihren Vater zeitlebens und widmete ihm später ihr autobiografisches Werk. Ihre Liebe zu Pädagogik und Sprache scheint ihr von ihm mitgegeben worden zu sein: Marianne Stradal studierte später Germanistik und Anglistik in Wien und unterrichtete anschließend als Gymnasiallehrerin. Von ihrer Mutter hatte sie den Pragmatismus, die Willensstärke und die Gabe, Dinge mit Herz und Hand anzupacken. Mit der Zeit widmete Marianne Stradal sich immer mehr den Handarbeiten, wurde zur Forscherin, Journalistin, Professorin und Fernsehmoderatorin.

Handarbeiten als Kulturgut

Was für viele eine Freizeitbeschäftigung ist, war für Marianne Stradal Berufung – ja, mehr noch: ein kultureller Auftrag. Für sie waren textile Techniken nicht bloß praktische Fertigkeiten, sondern Ausdruck menschlicher Kreativität und historischer Entwicklung. Die Nadel – so schrieb sie sinngemäß – sei eines der ältesten Werkzeuge der Menschheit. Sie habe ganze Kapitel der Kulturgeschichte mitgestaltet. Schon als erste Bekleidungsstücke wurden Felle von Jäger und Sammler mit Nadel und Faden aneinandergenäht. Die textile Kunst bewegte sich entlang der Handelswege vom Orient in den Okzident. Sie hält fest, dass kulturelle Blütezeiten von Ländern auch ausgeprägte Hochzeiten der Textilkunst bewirkten. Selbst in Umbruchzeiten begleiteten Handarbeiten die Menschen – als Teil ihres Alltags, als Ausdruck ihrer Identität und nicht zuletzt als Handelsgut.

Stradal bezeichnete Handarbeiten als »stille Zeugen«, als Zeugnisse einer Kultur, die oft übersehen wird. Anders als Baudenkmäler sprechen sie leise – aber wer sie versteht, dem sprechen sie umso eindringlicher. Es war ihr großes Anliegen, diesem Bereich wieder zu dem Stellenwert zu verhelfen, den er einst innehatte.

Zwischen Zugabteil und Fernsehstudio

Neben ihrer späteren Tätigkeit als Professorin für Textilgeschichte reiste Marianne Stradal viel – meist mit der Bahn. Die Züge wurden für sie zu kleinen Bühnen des Alltags, zu Begegnungsräumen. In »Mit St(r)icknadel und Lippenstift auf der Bundesbahn« schildert sie kleine Episoden mit Mitreisenden, mit dem Zugpersonal, mit zufälligen Gesprächspartner*innen. Ihre Strick- oder Häkelnadeln dienten oft als Türöffner: Wer sie mit Fäden hantieren sah, setzte sich dazu, erzählte von sich – manchmal nur für einen Augenblick, manchmal tiefgründiger. Diese flüchtigen Begegnungen, schreibt sie, trügen eine besondere Vertrautheit, ja fast Intimität in sich – und genau darin liege ihr Reiz.

In den 1950er und 60er Jahren war Marianne Stradal auch im Fernsehen zu sehen. Ihre Sendungen, die abwechselnd in Wien Köln und München aufgezeichnet wurden, trugen Titel wie »Von Nadel und Faden zur blühenden Industrie« oder »Alles fürs Baby« – eine Mischung aus Kulturgeschichte und praktischer Anleitung (hier stellen wir ihr Buch zu der Fernsehsendung kurz vor). In den Sendungen verstand es Marianne Stradal, historische Kontexte lebendig zu machen, technische Vorgänge anschaulich zu erklären – stets charmant, mit einem Augenzwinkern, aber auch mit Tiefgang. Sie war dabei nicht frei von Konflikten: Bei den Dreharbeiten kam es bisweilen zu Auseinandersetzungen. Es ergibt sich das Bild einer energischen Marianne Stradal, die klar in ihren Vorstellungen war.

Ein bewegtes Leben

Der Zweite Weltkrieg stellt einen Bruch dar. Oft berichtet sie von »vor dem Krieg«, als wären es verschiedene Welten gewesen, in denen sie gelebt hätte. Eindrucksvoll berichtet sie von Fluchtgeschichten, Verlusten und der Kraft, neu zu beginnen. Später lebte sie unter anderem in Düsseldorf und Braunschweig, kehrte aber immer wieder nach Wien zurück. Auch, wenn Deutschland als ein ihr vertrautes Land dargestellt wird, blieb Österreich für sie Heimat. Deutschland war eher ein Ort der Arbeit – strukturiert, verlässlich, aber auch mit einem gewissen Maß an Distanz.

Ihr privates Leben war nicht weniger bewegt: Nach dem Verlust ihres ersten Sohnes kurz nach der Geburt, tat sich für sie ein Abgrund auf – ein Schicksalsschlag, der sie tief erschütterte. Gleichzeitig berichtet Marianne Stradal darüber, wie rasch Menschen in der Lage sind Unglück zu vergessen und zu überwinden. Später wurde sie erneut Mutter eines Sohnes. Die besondere Verbindung zwischen Müttern und Kindern, das Weitergeben von Erfahrungen und Geborgenheit, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Erinnerungen. Dennoch betont sie: »Es nützt gar nichts, sich einzubilden, dass man Erfahrungen weitergeben könnte. Jeder muss sie selbst machen«.

Ein letztes großes Werk

In Zusammenarbeit mit Ulrike Brommer veröffentlichte sie das Buch »Mit Nadel und Faden – Kulturgeschichte der klassischen Handarbeiten« (1990). Es sollte ihr Lebenswerk werden – ein Streifzug durch die Geschichte des Häkelns, Stickens und Strickens, von den ersten Fellstücken bis hin zur europäischen Textilkunst. Sie konnte die Veröffentlichung selbst nicht mehr miterleben – 1986 starb Marianne Stradal im Alter von 82 Jahren in Österreich.

Das Buch richtet sich sowohl an Fachpublikum als auch an Liebhaber*innen. Es ist eine Fundgrube voller historischer Fakten, Beispielen und Impulse zur Kulturgeschichte der Handarbeiten. Und zwischen den Zeilen liest man immer wieder ihren Wunsch heraus, der Handarbeit neue Impulse zu geben, sie nicht nur als Handwerk, sondern als Kunst- und Gesellschaftsform zu verstehen.

Eine Frau mit Haltung

Marianne Stradal war eine Frau mit Haltung – stolz, ehrlich, konsequent. Sie glaubte an die Kraft des Schaffens, an den Wert des Prozesses. »Denn es ist nicht nur das fertige Stück, sondern die Arbeit selbst daran gibt die Freude und die Befriedigung«, schrieb sie.

Und sie glaubte an das Miteinander, an Solidarität unter Frauen, an die Notwendigkeit, kulturelle Praktiken lebendig zu halten. Ihre Vision war nicht rückwärtsgewandt – sie wollte das Alte bewahren, um es im Heute neu zu beleben. Manchmal frage ich mich – bei all der Wärme, mit der sie von ihrer Kindheit erzählt und alten Traditionen nachspürt – ob sie dabei nicht auch ein wenig zu sehr an Vergangenem festhielt, statt neue Muster zu schaffen. Beim Lesen ihrer Geschichte stoße ich immer wieder an ein klassisches, aus meinen Augen veraltetes Frauenbild: Die fürsorgliche Mutter, die hingebungsvolle Ehefrau, die stille Handarbeiterin. Es scheint, als hätte sie Frauen zwar aufgewertet, aber vor allem innerhalb eines Rahmens, den sie nicht mehr grundsätzlich hinterfragte.

Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, sehe ich wieder ein paar Häuser, ein altes Bahnhofsgebäude, vielleicht aus der Zeit, in der auch Marianne Stradal reiste. Ich denke an sie – an die Frau mit der Stricknadel in der Hand, mit dem aufmerksamen Blick, dem feinen Gespür für Geschichte und Menschliches. Und ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit wieder die Hände zu beschäftigen – vielleicht mit einer kleinen Handarbeit.

Wer weiß, vielleicht ergibt sich ja ein Gespräch.

liva hollingstedt, 25. mai 2025