»den faden verlieren«
Stellt Euch vor Ihr seid in einem Gespräch, als auf einmal das Telefon klingelt. Nachdem Ihr den Anruf angenommen oder abgelehnt habt, wisst Ihr nicht mehr, wo Ihr wart: Ihr »habt den Faden verloren«. Diese Redewendung wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannt und bedeutet sich beim Sprechen zu verwirren. Oft wird die Redensart eingesetzt, wenn man einen Gedanken plötzlich nicht mehr weiterverfolgen kann oder vergessen hat, was man eigentlich sagen wollte. Aber woher kommt die Redewendung überhaupt? Die Welt der Handarbeit liegt nah, tatsächlich gibt es aber noch eine andere Herkunftsgeschichte.
DER ARIADNEFADEN
»Es war eine düstere Zeit im antiken Athen: Jahr für Jahr wurden sieben Jungen und sieben Mädchen nach Kreta geschickt, um das Ungeheuer, den Minotaurus, der halb Mensch und halb Stier war, zu besänftigen. Der junge Held Theseus aus Athen wagte sich eines Tages in das Labyrinth des Schreckens, entschlossen, dem Spuk ein Ende zu setzen.
Ariadne, die Tochter des kretischen Königs, erkannte in Theseus einen wahren Helden und verliebte sich in ihn. Ihr Herz bewog sie dazu, ihm zu helfen. In der dunklen Nacht vor dem Aufbruch überreichte sie ihm ein Garnknäuel – ein geheimnisvolles Geschenk mit Anweisungen, wie er es im Labyrinth einsetzen sollte.
Der Faden war sein Kompass im düsteren Labyrinth, seine Verbindung zu Hoffnung und Überleben. Mit jedem Schritt, den er durch die verschlungenen Gänge machte, hielt Theseus den Faden fest in der Hand.
Schließlich erreichte Theseus das Herz des Labyrinths und stellte sich dem Ungeheuer. Mit seinem magischen Schwert bezwang er den Minotaurus und befreite sein Volk von der Schreckensherrschaft. Doch die Reise war noch nicht zu Ende. Mithilfe des gelegten Fadens fand er wieder den Weg aus dem Labyrinth heraus und floh gemeinsam mit Ariadne von Kreta nach Naxos. Jedoch entschied sich Theseus dazu, Ariadne in einem traumverlorenen Moment im Schlaf zu verlassen. Allein und gebrochen erwachte sie am einsamen Strand.«
Diese griechische Sage aus dem antiken Athen liefert uns eine Erklärung zur Herkunft der Redewendung »Den Faden verlieren«. Die viel offensichtlichere Erklärung liegt jedoch in den Handarbeiten und stellt auch eine Verbindung zur Kunst des Erzählens dar.
WEBEN UND TEXTEN
Die Ursprünge der Redensart lassen sich ebenfalls im Bereich des Spinnens oder Webens verorten, wo das feine Geflecht aus Fäden sorgsam verwoben wurde. Einmal den Faden verloren, musste man die Arbeit unterbrechen und schlimmstenfalls von Neuem beginnen.
Bereits in alter Zeit wurde das Erzählen übrigens auch mit der Textilherstellung in Verbindung gebracht. So stammt z.B. der Begriff des Erzähltextes vom lateinischen »texere« für »flechten, weben oder zusammenfügen«. Die Erklärung dafür liegt eigentlich klar auf der Hand: Während des Spinnens von Garn oder dem Weben von Stoffen hatten die Menschen viel Zeit sich über Geschehnisse auszutauschen und Geschichten zu erzählen. Dadurch entstanden während des Handarbeitens nicht nur Endprodukte (wie z.B. Wandteppiche), die durch Bilder erzählen, sondern auch Geschichten. Die Sprache selbst verwebt, wie geschickte Weber*innen, die Fäden des Ausdrucks zu einem kunstvollen Text.
In diesem Kontext entstanden Metaphern, die Begriffe aus der Textilverarbeitung verwenden, um Aspekte des Erzählens zu erfassen; und es lässt sich erklären, dass die Kunst des Webens und des Textens nah beieinander liegen.
SYNONYME BEZEICHNUNGEN UND GEGENWÖRTER
Daher liegen synonyme Bezeichnungen und Gegenwörter wie: »Den Faden aus der Hand gleiten lassen« oder »Den Faden wiederfinden / wieder aufnehmen« nahe. Eine sinnverwandte Redewendung aus dem 15.-17. Jahrhundert ist »Vom Hundertsten ins Tausendste kommen«. Die jedoch stammt aus dem Mittelalter, wo auf großen Rechenbänken gerechnet wurde und man bei unordentlichem Arbeiten schnell die 100er und 1000er Recheneinheiten verwechselte.
Vielleicht konntet Ihr aus diesem Beitrag die ein oder andere neue Information mitnehmen; wir zumindest hoffen, dass wir dabei nicht den Faden verloren haben…
quellen
quellenverzeichnis enthält externe links:
August Ludwig von Schlözer: August Ludwig Schlözers … Vorstellung seiner Universal-Historie, Bd. 2, Göttingen u. a. 1773, S. 302 (https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/schloezer_universalhistorie02_1773/?hl=Faden&p=98)
Gothaische gelehrte Zeitungen, 84. Stück, 18.10.1777, C. W. Ettinger, 1777, S. 694 (https://books.google.de/books?id=LTJRAAAAYAAJ&pg=PA695-IA3&dq=“den+Faden“+AROUND(6)+(verlieren+OR+verliert+OR
+verloren+OR+verlierst+OR+verlor))
Johann Andreas Cramer: Der Nordische Aufseher, Band 3, J.B. Ackermann, 1770, S. 99 (https://books.google.de/books?id=J4Y2AAAAMAAJ&pg=PA99&dq=“verliert+den+Faden“)
Predikant, Heike (2020): Woher kommt der Ausdruck „den Faden verlieren“? Seven.One Entertainment Group [online] https://www.prosieben.de/serien/galileo/news/woher-kommt-der-ausdruck-den-faden-verlieren-331721 [abgerufen am: 17.01.2024]
Redensarten-Index (2024): 1. Eintrag – den Faden verlieren [online] https://www.redensarten-index.de/suche.php?suchbegriff=den+faden+verlieren&gawoe=an&sp0=rart_ou&sp1=rart_varianten_ou [abgerufen am: 17.01.2024]
Wiktionary – das freie Wörterbuch (2023): den Faden verlieren [online] https://de.wiktionary.org/wiki/den_Faden_verlieren [abgerufen am: 17.01.2024]
liva hamburg, 21. januar 2024